Ethische Überlegungen zur Widerspruchsregelung

Jährlich sterben in Deutschland etwa 1000 Menschen, deren Leben durch eine Organspende hätte gerettet werden können. Auch wenn 2018 die postmortalen Organspenden etwas zugenommen haben, ist die Zahl mit weniger als zehn pro eine Million Einwohner weiterhin höchst kritisch. In keinem Staat, der sich – wie auch Deutschland – im Verbund von Eurotransplant befindet, gibt es prozentual so wenig Spender. Selbst Staaten, denen unser Gesundheitssystem sonst als Vorbild dient, haben eine weitaus höhere Spendenbereitschaft – in Uruguay gibt es fast doppelt so viele Spenden pro eine Million Einwohner. Vor einigen Tagen hat der Bundestag das Zweite Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes verabschiedet, dass einige Verbesserungen verspricht: angemessene Finanzierung – vor allem der Organentnahme –, Stärkung der Stellung der Transplantationsbeauftragten, Einrichtung eines Rufbereitschaftsdienstes zur Hirntoddiagnostik, mehr Koordination [1]. Inspiriert wurden diese Maßnahmen vor allem vom System Spaniens, wo es mit 47 pro eine Million Einwohner 2017 die meisten Organspenden in Europa gab. Das Gesetz weist den richtigen Weg, aber es ließe sich noch mehr tun: In Spanien (sowie Österreich und anderen Ländern, wo es „gut läuft“,) gibt es als eine weitere wirksame Vorgabe die Widerspruchsregel. Die Behauptung, strukturelle Verbesserungen allein würden reichen, ignoriert, dass 24% derjenigen, die für eine Spende in Frage kämen, in Deutschland nicht zu Spendern werden, weil die Angehörigen nicht zustimmen und deren Entscheidung ausschlaggebend ist, wenn kein Ausweis vorliegt[2].

Gesundheitsminister Jens Spahn schlug daher vor, auch in Deutschland eine Widerspruchsregel einzuführen. Sein mutiger, von der Bundeskanzlerin befürworteter Vorstoß, könnte die Knappheit verringern und so helfen, Menschenleben zu retten. Doch weite Teile der Öffentlichkeit reagierten abwehrend. Die Bildzeitung verwendete den reißerischen und bewusst irreführenden Titel: Gesundheitsminister Spahn sagt im Bild-Interview: Organe spenden soll Pflicht werden“[3]. Auf diese Weise wurde gegen die Widerspruchsregel Stimmung gemacht, indem dem Minister eine falsche Aussage unterstellt wurde, die er so nie getätigt hat. Selbst die in kleinerer Schrift formulierte Abschwächung „Wer nicht ‚Nein‘ sagt, ist automatisch Organspender“, wirkt in diesem Zusammenhang wie eine Drohung und verdreht den Vorschlag Spahns. Der Vorschlag des Gesundheitsministers sieht in Wirklichkeit nämlich vor, dass nicht nur jeder bzw. jede Betroffene zu Lebzeiten, einer Organentnahme bindend widersprechen kann, sondern sogar die Angehörigen die Möglichkeit haben, „nein“ zu sagen , selbst wenn der Verstorbene dazu keine eigene Meinung hinterlassen hat. Für dieses „nein“ wird keinerlei Begründung verlangt, obwohl es in der Sache um Leben und Tod von anderen Menschen geht. Auch andere Zeitungen wie der Münchner Merkur ließen Gegner der Widerspruchsregel zu Wort kommen, die ebenfalls fälschlich von einer „Pflicht zur Organspende“ oder sogar von einer „Zwangsabgabe“ von Organen sprachen.

Ein häufiger ethischer Vorwurf gegen die Widerspruchsregel lautet dabei, dass hier die Selbstbestimmungsrechte der verstorbenen Person über den Tod hinaus missachtet und der Leichnam der Betroffenen quasi vollständig instrumentalisiert und entgegen der kantischen Pflichtethik als reines Mittel und nicht mehr als Zweck in sich angesehen würde. Genau dies ist jedoch nicht der Fall, weil jede und jeder (und nach dem Tode sogar die Angehörigen) einer Entnahme widersprechen kann. Wer jedoch explizit keine Entscheidung zu Lebzeiten trifft, von dieser Person sollte man – gerade nach kantischer Auffassung - annehmen dürfen, dass sie lieber wünscht, dass ihre Organe nach dem eigenen Tod Menschenleben retten, als dass sie zersetzt werden oder im Feuer verbrennen.

Dass unsere Gesellschaft in ähnlichen Belangen, in denen es um das Bestimmungsrecht über den eigenen Körper nach dem Tod geht, sogar eine weitgehende Instrumentalisierung zulassen, zeigt das Beispiel der staatsanwaltlich angeordneten Obduktion. Hier handelt es sich wirklich um eine Pflicht, die keinen Widerspruch duldet. Vermutet der Staatsanwalt ein Verbrechen an einem Verstorbenen, wird der Betroffene obduziert, ganz unabhängig davon, ob er zu Lebzeiten damit einverstanden gewesen wäre und unabhängig davon, was die Angehörigen wünschen. Es sollen nämlich die Umstände des Todes geklärt werden. Die Zielsetzung einer möglichen Verbrechensaufklärung hat also einen so hohen gesamtgesellschaftlichen Wert, dass keine Ablehnung einer Obduktion von Seiten des Verstorbenen oder von Seiten der Angehörigen zulässig ist. Überspitzt könnte hier geschlussfolgert werden, dass der Staat also zugunsten der Verbrechensaufklärung mehr einfordert als es bei einer Widerspruchsregelung bei der Organspende der Fall wäre.

Auch der Einwand, es könnten so Menschen versehentlich gegen ihren Willen zu Organspendern werden, erscheint nicht stichhaltig zu sein. Jede bzw. jeder hat die Chance, sich mit den Umständen der Organspende auseinanderzusetzen. Und bei einem Thema, dass so sehr im gesellschaftlichen Interesse ist (und jede und jeden persönlich betreffen kann!), sollte der Staat erwarten dürfen, dass dies auch getan wird. Der Gesundheitsminister nannte dies die „Pflicht zum aktiven Freiheitsgebrauch“[4].

Alle Staaten, die eine Widerspruchsregelung haben, haben deutlich mehr Organspender. Gerade ein uns so geographisch und kulturell nahestehender Staat wie Österreich zeigt dies (mit 24,5 Spenden pro eine Million Einwohner). Es gibt also genügend Anhaltspunkte, dass eine Widerspruchsregelung die Zahl der Organspenden anheben würde. Wer behauptet, man solle auf eine Widerspruchsregel verzichten, weil es doch andere Möglichkeiten gäbe, die Zahl verfügbarer Organe zu erhöhen, übersieht, dass man auf eine gute Regelung nicht deshalb verzichten sollte, weil es weitere Möglichkeiten gibt, wenn durch die Kombination verschiedener Verbesserungen sogar synergistische Effekte zu erzielen sind.

Die wenigsten Deutschen scheint es außerdem zu stören, dass auf sie, sollten sie beispielsweise in Österreich verunglücken und als Organspender infrage kommen, ebenfalls die Widerspruchsregel angewandt würde. Genauso in Spanien – einem der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Vorbehalte, die in Deutschland existieren, eher emotionaler, als prinzipieller Natur sind.

Ein weiterer positiver Aspekt einer Widerspruchsregelung ist die emotionale Entlastung der Angehörigen. Die Ausgangssituation eines solchen wäre dann nämlich, dass die Organspende die „normale“ Vorgehensweise wäre, außer die verstorbene Person oder die Angehörigen an ihrer Statt hätten Widerspruch eingelegt. Die Angehörigen können so zusätzlich ihre eigenen Vorstellungen ergründen, jedoch mit größerer Gewissheit, dem Willen des Verstorbenen nicht zuwider zu handeln. Im Falle einer erweiterten Einwilligung dagegen fühlen sich die Angehörigen oft mit großer Verantwortung konfrontiert, wenn über die Wünsche und Vorstellungen hinsichtlich der Organspende nie gesprochen wurde und sie allein die Entscheidung treffen müssen, ohne den genauen Willen zu kennen. Allein die Vorsicht gebietet hier wohl oft verständlicherweise, lieber abzulehnen.

Auch für Ärzte erleichtert eine Widerspruchsregelung die schwierige Situation des Angehörigengesprächs. Sie sind dann weniger Bittsteller, die in einer solch schweren Situation auch noch möglichst schnell auf eine Entscheidung zur Organspende drängen müssen. Die Zustimmungszahlen in den Angehörigengesprächen belegen den Erfolg: Spanien verzeichnet 

die niedrigste Rate an Ablehnungen in den Angehörigengesprächen (die dort trotz Widerspruchsregel durchgeführt werden)[5].

Der vielleicht schärfste Einwand gegen die Widerspruchsregelung kommt von denjenigen, die das Ganzhirntodkriterium nicht anerkennen. Manche, die davon ausgehen, dass sich Ganzhirntote noch in einem Sterbeprozess befinden, würden dennoch die Organentnahme zulassen, weil sie diese im Sinn einer passiven Sterbehilfe analog zum Abstellen lebenserhaltender Geräte deuten. Sie lehnen dann die Widerspruchsregelung nur aus dem Grund ab, weil diese Form der Sterbehilfe immer eine ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen voraussetze. Andere würden dagegen die Explantation von Organen als eine direkte Tötungshandlung an einem Sterbenden verstehen und damit nicht nur die Widerspruchsregel ablehnen, sondern grundsätzlich die Zulässigkeit der Explantation bei Hirntoten ablehnen. Doch gibt es sehr gute Gründe, den Ganzhirntod als Tod des Menschen zu verstehen, denn wenn das Bewusstsein irreversibel erloschen ist, wenn also niemals mehr ein „ich“ gedacht und gesprochen werden kann, dann ist dieses betreffende „ich“ tot. Wenn ich aber tot bin, dann ist dies mein Tod, auch wenn möglicherweise in meinem Körper noch Lebenszeichen vorhanden sind. Der Ganzhirntod ist in diesem Sinn einer inneren Enthauptung vergleichbar. So wie es nicht sinnvoll wäre, einen enthaupteten Menschen als noch lebend zu verstehen, selbst wenn die Medizin imstande wäre, den Restkörper (durch Beatmung etc.) am Leben zu halten, so ist es nicht sinnvoll, Ganzhirntote noch als lebendig, wenn auch in einem Sterbeprozess befindlich, zu verstehen. Wer dennoch dieser Meinung ist, kann jedoch im Rahmen einer Widerspruchsregelung für sich die Organentnahme ablehnen.

Dazu kommt: Denjenigen, die nicht ausdrücklich einer Organentnahme zu ihren Lebzeiten widersprochen haben, sollte man damit indirekt ihre Bereitschaft zur Solidarität mit denjenigen, die Organe bedürfen, unterstellen dürfen, zumal die meisten Deutschen einer Organspende positiv gegenüberstehen[6]. Der Intention dieser Mehrheit wird durch eine Widerspruchsregel Rechnung getragen.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich somit zwingend die Sinnhaftigkeit einer Widerspruchsregelung. Eine derartige Regelung würde in Verbindung mit einer guten Koordination hoffen lassen, dass in Deutschland deutlich mehr Organe zur Verfügung stünden. Zunächst bleibt es aber wohl, die Wirkung der strukturellen Reformen abzuwarten.

Wahrscheinlich geht durch sie die Zahl der realisierbaren Organspenden tatsächlich nach oben. Vermutlich wird aber auch die Zahl derjenigen (nicht prozentual aber numerisch) größer, die nicht zu Spendern werden, da keine Willenserklärung vorliegt und die Angehörigen der Spende nicht zustimmen. Und dann wird man sich hoffentlich (mal wieder) an die Möglichkeit der Widerspruchsregel erinnern und vielleicht wird sie dann sogar wirklich eingeführt. Die Wahrscheinlichkeit, auf einer Warteliste zu landen, ist übrigens derzeit ca. achtmal höher als die, selbst zum Organspender zu werden. Die Erfahrung zeigt, dass sehr wenige eine Organspende in einer solchen Situation ablehnen, sondern dann selbst warten werden. Und hoffen. Und ihr Leben vielleicht genau der Spende verdanken, die in dem Prozentsatz liegt, der durch eine Widerspruchsregel zusätzlich erzielt werden könnte.

[1] Vgl. BT-Drs. 19/6915

[2] Vgl. Deutsche Stiftung Organtransplantation (2017): Jahresbericht Organspende und Transplantation in Deutschland 2017. S. 44-60.

[3] BILD (2018): Organe spenden soll Pflicht werden. Wer nicht „Nein“ sagt, ist automatisch Organspender. In: Bild-online vom 02.09.2018. Online verfügbar unter Artikel

[4] Spahn, Jens (2018): Organspende – eine nationale Aufgabe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.09.2018. Online verfügbar unter Artikel

[5] Vgl. Rodríguez-Arias, David; Wright, Linda; Paredes, David (2010): Success factors and ethical challenges of the Spanish Model of organ donation. In: The Lancet (9746), S. 1109–1112. Online verfügbar unter Artikel

[6] BZgA (2018): Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung (14 bis 75 Jahre) zur Organ- und Gewebespende. Bundesweite Repräsentativbefragung 2018 – Erste Studienergebnisse. Online verfügbar unter Artikel


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